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Für eine geschlechtersensible Gesundheitsversorgung

Geschlecht und Gender sind wichtige Gesundheitsdeterminanten. Die medizinische Versorgung ist jedoch, auch aus historischen Gründen, immer noch von einer männlichen Perspektive und dem Mann als Standard geprägt. Das schadet nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern.

Die «Male Bias» in der medizinischen Versorgung kommt zunehmend ins Rampenlicht. Der Herzinfarkt etwa galt lange als typische Männerkrankheit. Aber auch Frauen erleiden Herzinfarkte. Doch sie zeigen oft weniger eindeutige Symptome als die heftigen Schmerzen in der linken Brust, die in die Schulter und den linken Arm ausstrahlen. Sondern bei ihnen können weitere, relativ unspezifische Symptome dazu­kommen: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, ungewöhnliche Müdigkeit, Hals- oder Kieferschmerzen. «Wenn eine Frau mit solchen Symptomen in den Notfall kommt, besteht das Risiko, dass sie mit ein paar Medikamenten gegen Übelkeit und Schmerzen wieder nach Hause geschickt wird», sagte Vera Regitz-Zagrosek im Collegium Generale der Universität Bern Ende November 2023. Die Kardiologin ist eine Pionierin der Gendermedizin und erhielt 2022 für ihr Wirken den Ehrendoktortitel der Universität Zürich. Im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen gebe es einen Mangel an Wissen und Frauen erhalten nachweislich eine schlechtere Behandlung. Die Stress-Kardiomyopatie etwa, das sogenannte «Broken-Heart-Syndrom», betrifft grossmehrheitlich Frauen. Doch dass es sich dabei um eine ernsthafte Herzerkrankung handelt, werde überhaupt nicht diskutiert, kritisiert sie.
Doch nicht nur das biologische Geschlecht (sex) spielt eine Rolle, sondern auch das soziokulturell geprägte Gender. Sie beeinflussen sich darüber hinaus gegenseitig, bespielsweise aufgrund der Ernährung oder des Gesundheitsverhaltens.

 

Männlich, weiss, jung und 70 Kilo schwer

Die Medizin ist, auch historisch bedingt, männlich geprägt. Die 70-jährige Vera Regitz-Zagrosek war lange die einzige Frau in einer Runde von Männern. Diese ungleiche Vertretung hält bis heute an. Je weiter oben in der Hierarchie, umso tiefer ist der Frauenanteil in der medizinischen Forschung und Praxis. Zudem war der Mann, genauer der weisse, junge und 70 Kilogramm schwere Mann, lange Zeit Standard in klinischen Studien. Zurückzuführen ist das auch auf den Contergan-Skandal. Dieses Medikament war zwischen 1957 und 1961 in vielen Ländern rezeptfrei erhältlich und wurde Schwangeren als harmloses Mittel gegen Schlafprobleme empfohlen. Doch Contergan kann zu schweren Missbildungen beim Embryo führen. Schätzungsweise 12 000 sogenannte «Contergan-Kinder» wurden weltweit geboren, einige davon auch in der Schweiz. In der Folge wurden Frauen im gebärfähigen Alter aus klinischen Studien ausgeschlossen. Erst 1994 forderte eine Richtlinie der Zulassungsbehörde in den USA, auch Frauen wieder in klinische Studien einzuschliessen. Die europäische Arzneimittelbehörde (EMA) folgte in den 2000er Jahren.

 

Körper, Hormone, Stoffwechsel, Immunsystem

Frauenkörper sind nicht einfach wie Männerkörper, einfach meist kleiner, leichter und mit einem höheren Fettanteil. Sie unterscheiden sich auch im Immun- und Hormonsystem, haben kleinere Organe und einen anderen Stoffwechsel, der darüber hinaus durch den Menstruationszyklus beeinflusst wird. Medikamente können bei Frauen anders wirken als bei Männern: stärker, weniger stark oder länger. Sie können mehr, auch gefährliche Nebenwirkungen haben und werden anders verstoffwechselt. Ein Beispiel dafür ist das Benzodiazepin Zolpidem. Als festgestellt wurde, dass Frauen am Morgen nach der Einnahme von Zolpidem vermehrt Autounfälle verursachten, warnte die amerikanische Heilmittelbehörde FDA und passte die empfohlene Dosierung an (nicht jedoch die EU oder die Schweiz).
Doch warum werden nicht mehr Frauen in die Studien einbezogen? Die Pharmaforschung argumentiert, dass zyklusbedingte Hormonschwankungen die Studien komplizierter – und damit teurer – machen, und dass das Risiko bestehe, dass Studienteilnehmerinnen schwanger werden. Vera Regitz-Zagrosek kritisiert das als «organisatorische Ausreden», gerade wenn es um Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehe. Diese beträfen vor allem ältere Frauen nach der Menopause. «Zyklusbedingte Hormonschwankungen und Schwangerschaft sind da kein Argument gegen den Einbezug von Frauen in die Zulassungsstudien.»
Dennoch: Die Rekrutierung von einer adäquaten Zahl von Frauen für klinische Studien ist aufwendig. Für pharmakologische Studien müssen sich Probandinnen in Deutschland zur doppelten Verhütung mit Pille und Kondom verpflichten, wozu Frauen nicht einfach so bereit sind. Stillende und schwangere Frauen sind von Beginn an ausgeschlossen, auch wenn sie unter Umständen mit dem Medikament behandelt werden sollen. Dazu können individuelle und sozio-ökonomische Faktoren eine Teilnahme von Frauen an Studien verhindern, zum Beispiel Betreuungspflichten, eine niedrigere Mobilität, eine geringere Flexibilität aufgrund der Arbeit oder auch stärkere Befürchtungen für die eigene Gesundheit. Trotz gesetzlicher Vorgaben ist der Frauenanteil nicht ausgewogen, wie eine Analyse des Verbands der forschenden Pharmaindustrie (vfa) in Deutschland zeigte.

 

Potenzielle Unterschiede werden nicht entdeckt

Der «Gender Data Gap» ist tiefer als vermutet. Denn viele ältere Medikamente wurden nur an Männern getestet. Und auch wenn die Variable Geschlecht heute möglicherweise erfasst wird, fliesst sie nicht zwingend in die Analyse ein. Folglich werden potenzielle Unterschiede in der Wirkung der Medikamente auf Frauen oder Männer nicht entdeckt. Dabei wäre es wünschenswert, dass diese Informationen bekannt sind und in der Therapie berücksichtig werden. Das zeigt das Beispiel Zolpidem und auch das erwiesenermassen erhöhte Risiko für schwere negative Nebenwirkungen von Krebstherapien bei Frauen.
Es wäre möglich, die Lücke zumindest teilweise zu schlies­sen. Die Daten könnten nach der Zulassung weiter analysiert oder weitere Studien mit überwiegend oder nur Frauen durchgeführt werden. Doch die Pharmafirmen erklären, die Unterschiede seien nicht gross genug, um solche Studien zu rechtfertigen. Ausserdem gebe es zahlreiche weitere Faktoren, die Einfluss hätten, wie Lebensstil, Ernährung, Körperbau (kleiner dünner Mann vs. grosse kräftige Frau). Und schliesslich gehe der Trend zu personalisierter Medizin. Damit sollen Therapien generell stärker auf das einzelne Individuum abgestimmt werden. Doch die personalisierte Medizin mag in reichen Ländern des globalen Nordens in absehbarer Zukunft Verbreitung finden. In ärmeren Ländern des globalen Südens hingegen ist das kaum realistisch. Wenn bekannte Unterschiede in der Wirkung der Therapien wenigstens bezüglich des Geschlechts berücksichtigt werden könnten, könnte schon viel Schaden verhindert werden.

 

Unter- und Fehlversorgung als Folge

Der «Gender Gap» betrifft nicht nur Therapien, sondern auch Prävention, Diagnostik und Forschung. Erst in den letzten Jahren wurde etwa Endometriose als ernsthafte Erkrankung anerkannt. Auch viele Autoimmunerkrankungen wie Psoriasis, rheumatoide Arthritis, Typ I Diabetes, Multiple Sklerose oder einige Schilddrüsenerkrankungen betreffen überwiegend Frauen. Viele davon sind aber gemäss Wikipedia «unzureichend verstanden und nicht kausal behandelbar». Psychische Leiden hingegen gelten nach wir vor als Krankheiten, die eher Frauen betreffen. Doch ob statistische Unterschiede auch auf die tatsächliche Krankheitslast zurückzuführen sind, ist fraglich. Gemäss Bundesamt für Statistik sind zehn Prozent der Frauen wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung, gegenüber lediglich sechs Prozent bei den Männern. Doch die Suizidrate ist bei den Männern mehr als doppelt so hoch. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass Männer im psychischen Bereich unterversorgt sind. Mittlerweile wächst das Bewussstein, dass Männer auch atypische Symptome von Depression zeigen, etwa Sucht, Wut, Aggressivität und ein erhöhtes Risikoverhalten.
Es gibt viele Beispiele, wie gesellschaftlich geprägte (Geschlechter-)Vorstellungen und Rollen die Wahrnehmung und damit Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten beeinflussen. ADHS etwa galt lange als Bubenkrankheit und wird bei Mädchen und Frauen erst spät oder gar nicht diagnostiziert. Männer können an Osteoporose oder Essstöstungen leiden, Frauen an Herzkreislaufkrankheiten. Doch diese Risiken sind noch zu wenig bekannt, weshalb sie auch nicht in entsprechende Vorsorgeuntersuchungen einfliessen.


Bewusstsein, Forschung und Bildung nötig

Das Gesundheitssystem darf nicht nur für eine Bevölkerungsgruppe eine optimale Versorgung bieten. Gesundheitsfachpersonen sollten sich bewusst sein, dass Geschlecht und Gender eine Rolle spielen. Sie beeinflussen auch, wie kommunziert wird und wie sich die Beziehung zu den Patient:innen gestalten. Dazu gehört auch das Thema sexuelle Belästigung.
Damit Geschlechteraspekte als Gesundheitsdeterminanten mehr berücksichtigt werden, braucht es neben dem Bewusstsein mehr Forschung, auch in der Pflege. Dabei können die «Sex and Gender Equity in Research» (SAGER) Guidelines unterstützen. Und schliesslich muss die Thematik in Aus- und Weiterbildungen angesprochen werden. Davon ist auch Madeleine Bernet überzeugt (s. Interview nächste Seite). Dabei sollte nicht nur das binäre, heteronormative Geschlechtermodell berücksichtigt werden. Der Anteil Menschen, die intersexuell, trans* oder nonbinär sind und/oder nicht heterosexuell empfinden, wächst von Generation zu Generation. Auch sie haben Anspruch auf eine gute Gesundheitsversorgung.

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